Es ist der Händedruck: fest, die Hand völlig umschließend mit der Kraft einer mittelgroßen Schraubzwinge. Es ist schon nach wenigen Sekunden klar, dass Alfred Stickl nicht zu dem Bild passt, dass man üblicherweise von einem Sechsundachtzigjährigen hat. Wir sind mit ihm zu einem Baustellenrundgang verabredet, weil er als Vorarbeiter im Sommer 1960 fünf Wochen auf der Schauspielhaus-Baustelle aktiv war. Wir möchten gerne aus erster Hand erfahren, wie zur Zeit von Wilhelm Riphahn der Baustellenalltag ausgesehen hat – aber unser Zeitzeuge interessiert sich viel mehr für die Baustelle heute als für die Anekdoten von 1960.
Beim Rundgang über die Baustelle geht er stets vorne weg, öffnet Türen und erforscht Wege im Labyrinth der Untergeschosse der vier Bühnen. Der sechsundachtzigjährige Alfred Stickl hat also nicht nur einen Händedruck, der Bud Spencer in die Knie gezwungen hätte: Er ist auch überaus neugierig und hellwach. Aus der Bauzeit des Riphahn-Ensembles hat er sich ein Faible für Beschaffenheit von Betonoberflächen erhalten, seine Hände fahren immer wieder über die neuen Betonflächen, um die Struktur zu ertasten und die Qualität zu prüfen.
1960 gehörte die Herstellung des Bühnenturms und das Erstellen der abschließenden Decke des Schauspielhauses zu seinen Kernaufgaben. Stickl arbeitete damals für die Kölner Firma Rapien, die aus seiner Sicht zu dieser Zeit mit Schwergewichten wie HOCHTIEF und der STRABAG auf Augenhöhe konkurrierte. Da für die Gleitschalung flüssiger Beton unerlässlich ist, musste Rapien am Offenbachplatz entsprechend 24 Stunden präsent sein und stellte die Arbeiten für die Dauer der Arbeiten am Bühnenturm auf einen Zwei-Schicht-Betrieb um. Stickl, der vorher auf der Baustelle der Universität gearbeitet hatte, wurde kurzfristig zum Offenbachplatz abgeordnet und kam so zu seiner ersten Stelle als Hilfspolier: „Es waren zwar nur fünf Wochen, aber für meine weitere berufliche Entwicklung zum Polier war es eine entscheidende Bewährungsprobe“. Als besondere Herausforderung ergab sich nämlich, dass mit ihm 15 italienische Bauarbeiter auf der Baustelle begannen, die kurzfristig in Italien rekrutiert wurden und die kein Wort Deutsch sprachen. Zudem stellte sich heraus, dass zum Teil ihre Kernkompetenz der Bau von Trockenmauern war. Spätestens als einer der Arbeiter eine Mauer unter einer Treppe gänzlich ohne Mörtel bauen wollte, dämmerte Stickl die Dimension seiner neuen Aufgabe. „Ich habe dann unbewusst meine Kommandos immer lauter gegeben, weil sie mich ja nicht verstanden haben, bis dann die Polizei kam, weil die Menschen wegen des Lärms auf der Nachtbaustelle nicht schlafen konnten. Ich habe mir dann schnell ein paar Brocken „Baustellen-Italienisch“ angeeignet.“, erinnert sich Stickl schmunzelnd. Sehr präsent ist ihm auch noch der Moment, als bei der Schalung vom Fenstersturz im Erfrischungsraum sich plötzlich die Stützen an den Fenstern wegen der Last zu biegen begannen. Aus seiner Sicht waren das alles normale Vorgänge. „Es war für die damalige Zeit eine ordentliche Baustelle, aber man kann den Baubetrieb nicht mit aktuellen Baustellen vergleichen. Heute sind die ganzen Arbeitsschritte so voller Vorschriften, dass man zum eigentlichen Bauen ja kaum mehr kommt“, vergleicht er die Bauprozesse und bleibt an einer Sichtbetonfläche im Treppenhaus der Kinderoper erstaunt stehen. Ungläubig streicht er über die glatte Fläche. „Die haben wir betonkosmetisch bearbeitet, die sah auch mal anders aus“, klärt ihn Dagmar Willecke, die begleitende Architektin, auf, womit der technische Fortschritt seit Stickls Pensionierung vor 23 Jahren kurzfristig wieder auf ein normales Maß zurück schrumpft.
Je weiter wir auf dem Rundgang kommen, desto präsenter werden die Erinnerungen des Sechsundachtzigjährigen. Im Zuschauerraum des Schauspielhauses fällt ihm wieder ein, wie schwierig die Herstellung der Innenverschalung eines Beleuchtungsturms war: „Bauarbeiter waren ja meist groß und kräftig, aber für diese Aufgabe durfte man eigentlich nicht größer als 1,60 m sein.“ Aber auch dieses Problem konnte gelöst werden.
Ob ihm Wilhelm Riphahn in seiner Zeit am Offenbachplatz begegnet ist? Stickl überlegt: „Ich erinnere mich an einen Mann mit Staubmantel und Hut, der mehrmals da war. Sah so ein bisschen aus wie Kojak.“ Wir zeigen ihm ein Riphahn-Foto und Stickl erkennt ihn wieder.
Der Baustellenrundgang ist beendet und scheint Stickl nicht im mindesten ermüdet zu haben. Er verabschiedet sich mit den besten Wünschen für das Projekt – und einem Händedruck.